Wenn aus Buchtiteln Geschichten werden. Das Literarische Puzzle (DLP) bei Buch38.de. Aufgabe: Es gilt eine Anzahl vorgegebener Buchtitel nahtlos in eine Kurzgeschichte zu integrieren.
Herausforderung angenommen!
Folge 10: Die Einladung
Der Kies knirschte leise unter den Reifen, als er etwas zögerlich von der Landstraße abbog. Konnte das der richtige Weg sein? Angelo hatte ihm die GPS Koordinaten gesandt und er musste sich wohl oder übel auf die Richtigkeit der Angaben verlassen. Auch wenn dieser dunkle Zugang zum Wald einen unheimlichen Eindruck erweckte, welche andere Wahl hatte er? Angelo wollte am Haus auf ihn warten. Allerdings gäbe es dort nur einen sehr schlechten Empfang. Ein Kontrollanruf, um die Route zu überprüfen, fiel also aus.
Der Wagen schaukelte verdächtig hin und her, bis die Reifen endlich in die Fahrrinne rutschten. Rolf war richtig froh, dass er sich seinerzeit für einen SUV entschieden hatte. Sein alter Scirocco wäre hier gnadenlos auf der Grassode hängengeblieben, welche die Mitte des Weges bildete. Er schaltete das Fahrlicht ein. Der Wald rechts und links war so dicht, dass die Sonne an diesem späten Nachmittag kaum durch die Blätter der Bäume drang.
Worauf hatte er sich nur eingelassen? War es eine weise Entscheidung gewesen, dieses verlängerte Wochenende hier draußen in der Pampa zu verbringen? Jenseits der Zivilisation? Ohne Internet? Noch dazu mit einem Menschen, den er im Grunde genommen gar nicht kannte, von dem er so gut wie nichts wusste?
In dem Augenblick, als er Angelos Angebot angenommen hatte, fühlte es sich auf jeden Fall richtig an. Er wollte nur noch weg. In den letzten Monaten hatte er ständig das Gefühl
Unter Wahnsinnigen
leben zu müssen. Als wäre die ganze Welt völlig übergeschnappt. Termine wurden nicht mehr eingehalten, die Lieferketten waren unterbrochen und die Forderungen aller Projektbeteiligten schienen komplett durch die Decke zu gehen.
Vor einer Woche bekam er zufällig ein Gespräch in der Teeküche mit. Marianne unterhielt sich mit einem Fremden, den er noch nie zuvor in der Firma gesehen hatte. Offenbar war Marianne vor einiger Zeit mit der Frau dieses Mannes in einem Wochenendhaus im bergischen Land gewesen. Sie schwärmte in den höchsten Tönen von diesem Aufenthalt.
“Was ich bis heute noch nicht ganz verdaut habe ist:
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Ich habe seit langer Zeit endlich mal wieder meinen eigenen Atem gehört. Das war äußerst erstaunlich. Vielen, vielen Dank für die Einladung! Und grüße bitte Maria ganz lieb von mir, ja?”
“Natürlich, das mache ich gern. Schön, dass es dir gefallen und hoffentlich auch gut getan hat.”
“Oh ja, das hat es wirklich, Angelo. Das werde ich so schnell nicht vergessen…”
Mariannes iPhone unterbrach das Gespräch mit einem lautstarken ‘I will survive’ von Gloria Gaynor. Marianne schaute auf das Display, entschuldigte sich, drückte Angelo hastig und verschwand, das Gerät am Ohr, in Richtung Flur.
Angelo stellte sich neben Rolf an den Kaffeeautomaten und drückte ein paar Tasten. Während das Gerät zu arbeiten begann, wandte er sich ihm zu und sagte: “Guten Tag. Ich bin Angelo Di Dio.”
“Maler. Rolf Maler. Angenehm.” Sie gaben sich die Hand. “Tut mir leid, dass ich so in ihr Gespräch hineingeplatzt bin. Ich wollte sie keinesfalls belauschen. – Sie sind neu hier?”
Di Dio winkte ab, ohne auf Rolfs Frage einzugehen. “Schon gut.”
Er kramte einen Löffel aus der Schublade. “Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber ich wollte ohnehin mit ihnen sprechen. Wäre es morgen Mittag recht? Im Bistro gegenüber? Ich erwarte sie um 12.30 Uhr.”
Rolf war von dieser spontanen Einladung so überrumpelt, dass er automatisch nickte. “Ja, gern.”, hörte er sich sagen.
“Fein.” Angelo nahm seinen Kaffee aus dem Automaten, steckte den Löffel hinein und ging leise rührend fort.
Es gab einen heftigen Knall unter dem Wagen und in Sekundenbruchteilen stand Rolf auf dem Bremspedal. “Sch…” zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne das Wort zu beenden. Er blickte in den Rückspiegel, nach rechts und links. Nichts zu sehen. Entnervt stellte er den Motor ab und öffnete die Fahrertür. Glücklicherweise war der Boden trocken und so brauchte er nicht zu befürchten, Matschwasser in seine Slipper zu bekommen. Nach dem er einige Male um den Wagen herumgegangen und darunter geschaut hatte, war er beruhigt. Was auch immer diesen Krach verursacht haben mochte, schien keinen Schaden angerichtet zu haben. Während in der Ferne ein Specht seinen Schnabel in einen Baum hämmerte und damit den ganzen Wald beschallte, stieg Rolf wieder in den Wagen, startete ihn und fuhr langsam weiter. Das Navi zeigte noch zwei Kilometer bis zum Ziel an.
Er wusste wirklich nicht, warum er der Einladung Di Dios gefolgt war. Obwohl die ganze Situation so ungewöhnlich war, zog ihn dennoch etwas ins Bistro auf der anderen Straßenseite. Angelo war bereits dort und winkte ihm freundlich lächelnd von einem der hinteren Tische aus zu.
“Schön, dass sie es geschafft haben. Bitte nehmen sie Platz.” Di Dio wies auf den Stuhl gegenüber. Dann winkte er dem Kellner und bestellte zwei große, alkoholfreie Weizen. “Schließlich sind wir noch im Dienst.”, sagte er augenzwinkernd. “Sie mögen doch Weizenbier?”
“Ja, gerne.” Als hätte Di Dio gewusst, dass dies sein liebstes Getränk in der Mittagspause war.
Überhaupt verlief das gesamte Gespräch in einer seltsam unwirklichen Atmosphäre. Er kannte seinen Gastgeber überhaupt nicht. Und doch war von Anfang an eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen vorhanden. Angelo Di Dio war einer der einfühlsamsten Menschen, denen er jemals begegnet war. Gerade in ihrem Business war es üblich taff und cool zu sein. Es war als kannte er Rolf schon seit Jahren. So wie ein alter, vertrauter Freund schien er alles von ihm zu wissen. Auch die Tatsache, dass Rolf in den vergangenen Monaten derart unter Strom gestanden hatte. Und dabei war er bis dahin immer davon ausgegangen, dass dies, ausser ihm selbst natürlich, niemand bemerkt hatte.
Schlussendlich endete dieses Mittagessen mit einer weiteren Einladung. Di Dio wollte mit ihm über das Pfingstwochenende in das besagte Wochenendhaus fahren, in dem auch Marianne schon zu Besuch gewesen war. Rolf zierte sich anfangs und irgendwie war ihm die ganze Sache peinlich. Doch Angelo gelang es auf eine ganz eigentümliche Art und ohne irgendwelchen Druck aufzubauen, Rolf von der Sinnhaftigkeit dieser kleinen Auszeit zu überzeugen. Und so sagte er schließlich zu.
Und nun war er hier im dunklen Wald unterwegs und ertrug geduldig alle
Erschütterungen
die der holprige Pfad mit sich brachte. Etwa zwanzig Meter vor ihm erkannte er einen hölzernen Wegweiser, auf dem er beim Näherkommen den Schriftzug “Heaven’s Gate Ranch” entziffern konnte. Na hoffentlich würde sich dieses Wochenende als ebenso ‘himmlisch’ erweisen. Nötig hatte er es.
Im Vorfeld hatten er und Sabine natürlich über die Einladung und die Tatsache, dass sie dann während der Feiertage getrennt sein würden, gesprochen. Als er Sabine von der eigentümlichen Faszination erzählte, die Angelo Di Dio auf ihn ausübte, fragte sie nur, ob er denn ein gutes Gefühl bei der Sache habe. Ja, das hatte er. Damit war für sie die Entscheidung gefallen.
An diesem Morgen brachte er Sabine zum Bahnhof. Sie besuchte in der Zeit seiner Abwesenheit ihre Schwester in Hannover. Wieder zu Hause legte er die Hände an den Kofferdeckel und zögerte noch einmal. Sollte er die ganze Tour einfach abzusagen? Er konnte hierbleiben, sich unter seine Decke verkriechen und Pfingsten dort verbringen. Wenn da nicht immer wieder dieser innere Drang aufkam, ins Bergische Land zu fahren. Er atmete tief ein und sagte sich
Halte den Kopf hoch und den Mittelfinger höher
Er war leer und ausgebrannt, doch er spürte, dass die Situation nur noch besser werden konnte. Entschlossen drückte er den Kofferdeckel endgültig zu.
Der dunkle Weg öffnete sich schlagartig zu einer weiten Lichtung. Die Bäume wichen zurück als machten sie ihm Platz. Er konnte mit einem Mal weit ins Land hinausschauen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihn sein Weg auf eine Anhöhe geführt hatte. Angelo wartete schon. Auf einer Bank vor dem Haus sitzend, winkte er ihm von Weitem zu. Mit dem rechten Arm wies er auf einen kleinen Parkplatz neben dem Gebäude hin. Gleich nachdem Rolf dort den Motor abgestellt hatte, stand Di Dio neben dem Fahrzeug und öffnete die Tür.
“Schön, dass sie da sind.”
“Ich bin auch froh hier zu sein. Ein wenig abenteuerlich war das letzte Stück schon.” Rolf stieg aus dem Wagen, streckte sich und sah sich um. Von diesem Fleckchen Erde aus hatte man einen sagenhaften Blick über das Land. Die Sicht war klar und er konnte noch in großer Entfernung Kirchtürme und Windräder erkennen. Wahrscheinlich würde es heute noch regnen. Aber das war ihm in diesem Augenblick egal. Er fühlte sich einfach nur frei und wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Angelos Einladung zu folgen. Sobald er ausgepackt hatte, wollte er Sabine eine Nachricht schicken.
“Herrlich, nicht wahr?” Angelo war hinter den Wagen gegangen und sah zu ihm herüber. “Darf ich?”, fragte er auf den Kofferraum deutend. Rolf nickte und während Angelo das Gepäck aus dem Fahrzeug nahm, wandte er sich wieder dem Panorama zu. Tief atmete er ein. Ihm war, als wäre sein Brustkorb noch nie vorher mit so energiereicher Luft gefüllt worden.
Angelo gesellte sich zu ihm und setzte den Koffer auf dem Boden ab. Gemeinsam standen sie einige Minuten schweigend dort und schauten über die Lichtung hinweg ins Land hinaus. In der Ferne zwitscherten Vögel. Es war lange her, dass er ihren Gesang das letzte Mal bewusst wahr genommen hatte. Seine Arbeit war ihm immer wichtig gewesen. Und das sollte auch so bleiben, aber im Augenblick spürte er, dass er irgendwo in seinem Leben falsch abgebogen war. Der Alltag und die damit verbundenen Sorgen hatten die Oberhand gewonnen und waren dabei ihn zu besiegen. Das durfte nicht geschehen.
“Wie sehr ich das vermisst habe. Ohne zu wissen, dass ich es vermisse.”, sagte er schwermütig. Als keine Antwort kam, sah er neben sich. Angelo war gar nicht mehr bei ihm. Er hatte sich dezent zurückgezogen. Rolf lächelte und schritt langsam Richtung Eingangstür. Selbst unter seinen dicken Schuhsohlen konnte er den Sand des Weges spüren. Wie konnte das sein? Eine dicke Hummel brummelte an seinem Gesicht vorüber und im Wald schrie eine Elster. Es war so ganz anders als in der Stadt.
“Kaffee oder Tee?” Angelo streckte seinen Kopf aus einer Tür in den Flur des Hauses hinaus. Im Halbdunkel des Eingangs sah es so aus, als schwebte er in der Luft.
“Gerne Tee.”, sagte Rolf und zog unwillkürlich den Kopf ein, als er die Türschwelle ins Innere überschritt. Das warme Holz der Wände, der mit alten Fliesen belegte Fußboden, das Licht, das durch die Tür hereinfiel. All das gab dem Ort etwas Magisches. Ja, ihm fiel kein besseres Wort ein.
Di Dio kam aus der Küche, in der das Geräusch eines Wasserkochers langsam lauter wurde. “Kommen sie, ich zeige ihnen ihr Zimmer.” Er ging voraus, eine Treppe hinauf. Rolf folgte und musste aufpassen, sich nicht den Kopf zu stoßen.
“Haben sie das Haus selbst gebaut oder gekauft?”, wollte er wissen.
“Es ist seit vielen Generationen im Familienbesitz. Ich glaube in der sechsten oder achten. Ganz sicher bin ich mir gerade nicht. Auf jeden Fall schon sehr lange. Hier entlang bitte.”
Angelo wies Rolf den Weg in einen großen Raum, der über eine lange Fensterfront von Licht durchflutet wurde und einen starken Kontrast zum schummerigen Hausflur darstellte. “Oh, das hatte ich nicht erwartet.”
“Das glaube ich gern. Diesen Teil des Gebäudes haben wir nachträglich angebaut. Zwar hatten wir zuerst bedenken, den Gesamteindruck des Hauses zu ruinieren, aber dann war es uns schlicht und einfach egal. Es ist unser Haus. Wir können damit machen, was wir wollen. Es soll weder einen Architekturwettbewerb gewinnen, noch soll es verkauft werden. Wir wollen uns hier wohl fühlen. Hier ist unsere zweite Heimat.”
Aus dem Erdgeschoss war das Klicken des Wasserkochers zu hören, der sich abschaltete. “Schauen sie sich ein wenig um, ich lasse den Tee in der Zwischenzeit ziehen. – Ostfriesenmischung, richtig?”
Rolf sah Angelo erstaunt an. “Woher…” setzte er an.
Angelo zuckte mit den Schultern und schaute ihn verschmitzt an. “Ich rufe, wenn er fertig ist.”, sagte er und verschwand nach unten.
Rolf wunderte nichts mehr. Angelo schien alles zu wissen, was ihn betraf. Oder er war einfach nur gut im Raten. Seine Schritte führten Rolf direkt zur großen Balkontür, die er öffnete um hinauszugehen. Von hier oben reichte die Sicht durch eine breite Schneise tiefer in den Wald hinein. Als er dem Balkon folgte, der sich nach rechts um das Gebäude herumzog, konnte er wieder ins Land hinaussehen. Er bekam gar nicht genug davon.
Die lange Fahrt forderte ihren Tribut und er ging wieder hinein. Das Zimmer hatte ein eigenes Bad, das er sogleich benutzte. Danach klappt er seinen Koffer auf, den Angelo auf dem Bett deponiert hatte, und hängte seine zwei Ersatzhemden auf Bügel im Schrank. Nachdem er die Zahnbürste im Bad verstaut hatte, warf er das Sacko über die Lehne des Schreibtischstuhles, krempelte die Ärmel seines Hemdes hinauf und ging nach unten.
Angelo hörte ihn herunterkommen und rief: “Ich bin auf der Terrasse! Gleich gegenüber der Küche durch das Wohnzimmer!”
Rolf orientierte sich kurz um und folgte der Stimme. Durch ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer gelangte er auf die Terrasse, die ihrem Namen alle Ehre machte. Sowohl die Terrasse als auch sein Zimmer im Obergeschoß passten überhaupt nicht zum Rest des Hauses. Der erste Eindruck, den es jedem Besucher vermittelte, der sich über den Fahrweg näherte, unterschied sich völlig von dem, den es im Inneren bot.
“Kein Zucker. Etwas Milch?” Di Dio hielt das Milchkännchen über einer Tasse in die Höhe und sah Rolf fragend an. Natürlich weiß er das auch, dachte Rolf und nickte zum wiederholten Male stumm.
Dann nahm er an dem riesigen Tisch platz, an dessen Ende Angelo den Tee serviert hatte. Schweigend füllte er die eigene Tasse, deutete auf die Kekse in der Tischmitte und dann saßen sie schweigend und Tee trinkend beisammen, bis die Tassen leer waren.
Später an diesem Abend holte Angelo den Grill aus dem Verschlag an der Terrasse und sie saßen draußen, bis die Wolken aufzogen und der erwartete Regen über dem Wald niederging. Während der ganzen Gespräche hatte Rolf immer den Eindruck, völlig durchschaut zu werden. Was jedoch noch vor ein paar Tagen ein mulmiges Gefühl in ihm heraufbeschwor, hatte sich jetzt in etwas ganz Normales gewandelt. Rolfs Vertrauen zu Angelo Di Dio wuchs ständig und er wurde zu einem offenen Buch für diesen fremden Mann, der nun kein Fremder mehr wahr.
Es fühlte sich so an, als wachse in ihm langsam und auf merkwürdige Weise eine Art
Heilung
Die Last der vergangenen Monate bekam Risse und begann zu bröckeln. Eine Ruhe breitete sich in Rolfs Brustkorb aus und durchflutete seinen gesamten Körper.
Gemeinsam brachten sie Geschirr und die Reste der Abendmahlzeit ins Haus, schlossen die Tür, während sich draußen der Regen zu einem ausgewachsenen Gewitter entwickelte.
Später wollte Rolf Sabine noch eine Nachricht schicken, aber der Empfang war zu schlecht. Also machte er sich bettfertig, zog die Decke bis zum Kinn und nach nicht einmal zwei Minuten war er eingeschlafen.
Der schrille Schrei eines Vogels weckte ihn. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Der Regen hatte aufgehört. Wann hatte er das letzte Mal so gut und erholsam geschlafen? Er konnte sich nicht erinnern. Auf jeden Fall fühlte es sich wunderbar an.
Voller Elan sprang er aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und riß die Balkontür weit auf. Die frische Luft strömte in seine Lungen und er fühlte sich lebendig wie lange nicht mehr. Er ließ das Wasser der Dusche in scharfem Strahl über sein Gesicht rauschen. Es war, als würde der komplette Schmutz seiner Seele abgewaschen und auf Nimmerwiedersehen im Abfluss verschwinden.
Während er die Schnürsenkel seiner Schuhe zuband, lauschte er. Ob Angelo schon auf war? Leise öffnete er die Zimmertür und trat in den Flur hinaus. Alles war still. Staub tanzte im Licht der einfallenden Sonne. Die Treppe knarrte bei jeder zweiten Stufe. Vorsichtig klopfte er an die halb offene Küchentür und schob sie weiter auf.
“Angelo?” Nichts. Er ging hinüber ins Wohnzimmer und stutzte. Alle Möbel waren mit weißen Laken abgedeckt, die Vorhänge waren zugezogen. In der Vase auf dem Fenstersims stand eine vertrocknete Blume. Erneut rief er nach Angelo, erhielt abermals keine Antwort. Langsam öffnete er die Terrassentür und wollte hinüber zum Tisch gehen, an dem sie vergangenen Abend gegessen hatten. Doch der Tisch stand, in seine Einzelteile zerbrochen, an die Hauswand gelehnt. Eine dicke Staubschicht und abgestorbene Blätter hatten sich auf ihn gelegt. Etwas abseits stand ein völlig verrosteter, seit langem unbenutzter, Grill.
Was ging hier vor sich? Wie konnte das sein? Gestern Abend war hier alles anders? Und wo war Angelo Di Dio?
Erneut rief er nach ihm, ging zurück ins Haus und durchsuchte alle Räume, in die er gelangen konnte. Alle waren leer und offensichtlich seit langer, langer Zeit verlassen und unbewohnt. Das gebrauchte Geschirr, das er gestern Abend selbst ins Spülbecken gestellt hatte, war verschwunden. Der Kühlschrank, obwohl er dort alle Reste zu den anderen Lebensmitteln gestellt hatte – leer.
Nervös kramte Rolf sein Telefon aus der Hosentasche. Es hatte keinen Empfang. Vielleicht wäre es draußen besser. Er verließ die Küche, ging zur Vordertür des Hauses und drückte die Klinke nach unten. Sie bewegte sich, aber er konnte die Tür nicht öffnen. Im Halbdunkel des Flures sah er, dass sie nur noch an einer Angel hing und auf dem Fußboden aufsaß. Mit einiger Anstrengung musste er sie anheben und Stück für Stück öffnen. Draußen ging er durch kniehohes Gras und Unkraut einige Meter vom Haus weg. Noch immer kein Empfang.
Rolf drehte sich um und nahm das Haus in Augenschein. Es war, als ob es nicht mehr das war, an dem er gestern Nachmittag angekommen war. Noch einmal rief er laut nach Angelo und wieder erhielt er keine Antwort. Nur das Echo seiner eigenen Stimme kam schwach aus dem Wald zurück, dessen Bäume leise knarrten.
Normalerweise hätte ihn diese Situation in helle Panik versetzen müssen. Doch erstaunlicherweise blieb der innere Friede und die Ruhe, mit der er aufgewacht war, fest in ihm verankert. Es war derselbe Friede und dieselbe Ruhe, die er in Angelo Di Dios Gegenwart verspürt hatte.
Gemächlich schritt er einmal komplett um das Haus herum. Überall bot sich ihm das selbe, verlassene Bild. Von seinem Gastgeber fehlte weiterhin jede Spur.
Schließlich ging er hinauf in sein Zimmer, packte die Sachen zusammen und verstaute sie im Wagen. Der Motor sprang sofort an. Rolf legte den Rückwärtsgang ein, wendete und verließ dieses seltsame Anwesen, das im Rückspiegel verschwand.
Doch schon nach der ersten Kurve mußte er auf die Bremse treten. Ein Zaun, der gestern noch nicht dort gewesen war, verweigerte ihm die Weiterfahrt. Eine Schranke mit einem verrosteten Schloß machte ein Durchkommen unmöglich. Rolf schaltete die Zündung aus und dachte nach. Schließlich stieg er aus und schlüpfte unter dem Schlagbaum hindurch auf die andere Seite. Dort stand eine Informationstafel mit einem metallenen Schild.
Heaven’s Gate Ranch.
Zutritt behördlich untersagt.
Eltern haften für ihre Kinder.
Der Oberkreisdirektor
Daneben war unter einer vergilbten Folie ein Aushang zu erkennen.
Die Heaven’s Gate Ranch wurde bis zum Jahr 1996 von der Familie Di Dio als Heim für schwer erziehbare Jugendliche betrieben. Nach der Schließung des Heims, diente sie als Frauenhaus, das ebenfalls von Maria und Angelo Di Dio in Eigenverantwortung geführt wurde. Seit den furchtbaren Ereignissen des Jahres 2003 steht das Anwesen unter behördlicher Aufsicht und wurde seitdem nicht verändert. Der Zutritt wurde aus ermittlungstechnischen Gründen für die Allgemeinheit verboten.
Die Familie Di Dio fiel auf diesem Gelände im Herbst 2003 einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Die näheren Umstände und der Hergang der Tat konnten bis heute nicht geklärt werden. Wanderer entdeckten die Leichen des Paares hinter dem Haus. Alle Indizien weisen auf einen Ritualmord hin, was jedoch nie bewiesen werden konnte. Täter und Motiv sind bis heute ungeklärt.
Bernd Winkelmann
Kreishistoriker
Rolf lief ein Schauer über den Rücken. Er wusste nicht, was er denken sollte. Das war doch wohl ein übler Scherz. Er hatte gestern den ganzen Abend mit Angelo Di Dio verbracht. Und dieser war ebenso real gewesen, wie das Schild vor dem er gerade stand.
Der Signalton seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Hatte er wieder ein Netz? Der Anzeige nach war die Verbindung noch immer nicht hergestellt. Dennoch blinkte auf dem Display das Symbol für einen Nachrichteneingang. Er wischte die Anzeige nach oben uns las:
Ich weiss, dass dies alles für dich sehr verwirrend sein muss. Und unabhängig davon, was dein Verstand dir sagt, so weisst du doch, wie dein Herz zu dir spricht. Denke an gestern zurück. An die Zeit der Freude, an die Zuversicht, die du hier empfunden hast. Denke nicht mehr zurück an das, was war oder was werden könnte.
Leben geht nur vorwärts
besinne dich darauf. Und denke fortan immer daran, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als dein rationaler Verstand glauben mag. Schau auf das Wesentliche und gehe deinen Weg in Frieden. Angelo
Rolf sackten die Beine weg und er setzte sich einfach auf den Boden. Er las die Nachricht noch einmal und plötzlich verschwand sie mit einem leisen Pling vom Display. Rolf scrollte einige Mal hin und her, um sie wieder herzustellen. Es gelang ihm nicht.
Dann musste er mit einem Mal lächeln. Und aus dem Lächeln wurde ein breites Grinsen und schließlich ein lautes Lachen. Ein lautes und befreiendes Lachen. Ein Lachen, das er nur noch aus unbeschwerten Kindertagen kannte. Und letztendlich rannen ihm Tränen über das Gesicht. Er weinte hemmungslos und ohne Scham. Doch es waren keine Tränen der Trauer, sondern Tränen der Freude und der Zuversicht.
Rolf liess sich auf den Rücken fallen und schaute durch die Baumkronen hinauf in den klaren Himmel, der darüber zu sehen war. Wie lange er so dalag, konnte er nicht sagen. Es war ihm auch egal. Er wusste nur noch, dass alles gut werden würde. Wenn er es zuließ. Und das würde er tun.
Als die Kälte des Waldbodens seinen Rücken erreichte, erhob er sich wieder. Mit Hilfe eines Steins, den er zu Füßen der Informationstafel gefunden hatte, schlug er das Schloss an der Schranke auf. Er wuchtete den Schlagbaum nach oben, stieg in seinen Wagen und fuhr los.
Nach Hause.
Ende
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